Forum 2017

Drittes deutsch-französisches Forum „Berlin sur Seine – Paris an der Spree“ zum europapolitischen Thema Nr. 1: „Europa ein Jahr nach dem Brexit-Referendum“ / Lebhafte Diskussionen im Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität

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Am 22. Juni 2017 fand das 3. Forum der Veranstaltungsreihe „Berlin sur Seine – Paris an der Spree“ statt. Nachdem das Forum 2016 in Paris der Flüchtlingskrise galt, war in diesem Jahr erneut eine Frage von höchster europapolitischer Aktualität gewählt worden: „Europa ein Jahr nach dem Brexit-Referendum – Ansichten aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien“. Darüber diskutierten auf Einladung MEGA Alumni e. V. im Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin Vertreter der Diplomatie, der Wissenschaft und der Wirtschaft sowie Journalisten und die zahlreich erschienenen Teilnehmer höchst lebhaft und engagiert bis in die späten Abendstunden. Angesprochen wurden die Brexit-Verhandlungsprinzipien, die Frage von Übergangsfristen, die Sichtweisen in der Bevölkerung und – last but not least – die zentrale Frage, ob der Brexit zu mehr oder zu weniger Integration führen wird. So wurde es für die Vortragenden und die Teilnehmer ein sehr interessanter Abend mit vielen Erkenntnissen und mitunter auch überraschenden Einsichten.

Als Vertreterin der Humboldt-Universität zu Berlin begrüßte Silvia von Steinsdorff, Inhaberin der Professur für Vergleichende Demokratieforschung und die politischen Systeme Osteuropas und wissenschaftliche Leiterin der Internationalen Masterstudiengänge am Institut für Sozialwissenschaften sowie Direktorin der Berlin Graduate School of Social Sciences, die Vortragenden und die Teilnehmer. Sie beglückwünschte den MEGA-Alumni-Verein zu der Veranstaltungsreihe und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass bei den kommenden Foren „Berlin sur Seine – Paris an der Spree“ auch einmal positiver über europapolitische Themen diskutiert werden könnte, beispielsweise über neue Perspektiven für die europäische Idee.

In der ersten Gesprächsrunde über die politischen und wirtschaftlichen Implikationen der Brexit-Verhandlungen stellte Catherine Rozan, stellvertretende Leiterin der Wirtschafts- und Finanzabteilung an der Französische Botschaft in Deutschland zunächst die großen Verhandlungsprinzipen vor: (i) zwei aufeinanderfolgende Verhandlungsphasen; (ii) Integrität des Binnenmarktes. Dazu hat sie auch an die Prioritäten bei den Verhandlungen im Rahmen des Austrittsabkommens sowie die Herausforderungen für die zukünftige Beziehungen Großbritanniens zur EU erinnert.

Sven Moßler, Leiter der Arbeitseinheit Brexit im E-Stab, Europaabteilung des Auswärtigen Amtes, verwies darauf, dass Art. 50 EUV nur rudimentäre Regeln für einen Austritt enthält. Mittlerweile sei die EU-Seite institutionell und inhaltlich mit den Verhandlungsleitlinien und dem Mandat gut auf die Verhandlungen vorbereitet. Deutschland und Frankreich seien sich in den Zielen der Verhandlungen einig: Zum eine gelte es, Großbritannien so eng wie möglich an der EU halten. „Die Tür bleibt offen“ – zitierte er Staatspräsident Macron, auch, wenn es im Moment nicht realistisch sei, dass GB seine Entscheidung noch einmal zurücknähme. Zum anderen wolle man die Verhandlungen konstruktiv führen – mit den Interessen der EU-Mitgliedstaaten im Blick. Wie in jeder anderen Verhandlung auch sei man bestrebt, für die eigene Seite das Bestmögliche zu erreichen – für die EU-Bürger und für die Wirtschaft in der EU. Priorität habe in der ersten Phase der Verhandlungen die Regelung der zentralen Austrittsfragen.

Als Vertreter der Wirtschaft betonte Mathias Dubbert, Leiter des Referats Europapolitik, EU-Finanzierungsinstrumente, Europäische Außenwirtschaftsförderung, DIHK-Büro Brüssel, dass die nunmehr seit einem Jahr andauernde Unsicherheit für die Unternehmen äußerst ungünstig seien. Die Bedeutung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen unterstrich er mit eindrucksvollen Zahlen: Großbritannien steht an 3. Stelle der weltweit wichtigsten Exportländer der deutschen Wirtschaft, in Deutschland hängen ca. 700.000 Arbeitsplätze vom Handel mit Großbritannien ab, deutsche Unternehmen beschäftigen in Großbritannien ca. 400.000 Arbeitnehmer, davon viele EU-Inländer.

Verhandlungsziele – Status der EU-Bürger – Übergangslösungen – Personalbedarf – Sitz der EU-Agenturen

In der Fragerunde mit den Teilnehmern zeigte sich, dass die Verhandlungsziele Großbritanniens noch nicht klar sind: Austritt aus der EU, dem Binnenmarkt und der Zollunion oder eher ein „soft Brexit“? Sehr deutlich wurde, dass für die EU der zukünftige Status der EU-Bürger die allergrößte Priorität hat. Überraschend war der Hinweis, dass die EU-Verhandlungspapiere im Internet veröffentlicht sind. Vollkommen klar sei auch, dass die zweijährige Frist für die Regelung des zukünftigen Verhältnisses zu kurz sei und deshalb Übergangslösungen gefunden werden müssten. Die Frage nach den personellen Ressourcen für den Brexit brachte die Erkenntnis, dass vor allem Großbritannien zusätzliches Personal brauche, v.a. beim Zoll. Auch die Registrierung der 3 Mio. EU-Bürger, die in Großbritannien leben, müsse personell bewältigt werden. Für die Verhandlungen müssten auch die EU-Institutionen und die EU-Mitgliedstaaten Personal vorsehen. So wurde im Auswärtigen Amt ein eigener Arbeitsstab geschaffen. Das Auswärtige Amt ist in der Rolle des Federführers für die Ressortkoordinierung innerhalb der Bundesregierung zuständig. Zudem hat jedes Bundesministerium einen eigenen „Brexitbeauftragten“, der die Verbindung zu den jeweiligen Fachleuten sicherstellt. Auch über den zukünftigen Sitz der EU-Bankenaufsichtsbehörde und der EU-Arzneimittelagentur werde zu entscheiden sein. Auch wenn die Londoner „City“ als wichtiger Finanzplatz bestehen bleiben werde, hielten schon jetzt große Banken Ausschau nach einem geeigneten Ort für eine Niederlassung in der EU.

In der Journalistenrunde betonte Thibaut Madelin, Deutschland-Korrespondent von Les Échos, die Ungläubigkeit, mit der man in Frankreich auf das Ergebnis des Brexit-Referendums reagiert hatte. Vielfach wurde – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Vorwahlen und des Präsidentschaftswahlkampfs – die Frage gestellt, wie es dazu kommen konnte, dass die Wähler sich für den Brexit entschieden haben. In Frankreich sei die Debatte stark davon geprägt gewesen, dass der Front national sich für einen Austritt Frankreichs aus der EU ausgesprochen habe . Damit wurde ein Frexit zur konkreten Gefahr.

Philip Oltermann, Deutschland-Korrespondent von The Guardian, warnte davor, die Hoffnung zu hegen, die Briten würden sich letzten Endes doch noch gegen einen Austritt entscheiden. Es gebe in der britischen Bevölkerung durchaus eine deutliche Strömung, die für den Austritt aus der EU sei. Einer der Gründe dafür sei, dass es in Großbritannien schwer vermittelbar sei, dass EU-Inländer und Ausländer aus Drittstaaten einen unterschiedlichen Rechtsstatus haben. Das sei unvereinbar mit dem britischen „Fair-Play“.

Brexit – ein Sieg der Boulevard-Presse? – Wahrnehmung der Briten in Frankreich?

In der Diskussion mit den Teilnehmern wurde nicht ausgeschlossen, dass der Ausgang des Referendums auch darauf zurückzuführen sei, dass im Zuge der Leave-Kampagne in der Boulevard-Presse viele Unwahrheiten über die EU verbreitet worden sind. Europakritische Tendenzen gebe es auch in seriösen Medien. In Frankreich, aber nicht nur dort, seien die Briten vielfach als „Bremser“ in der EU-Politik empfunden worden. Der Brexit habe wie ein „wake-up call“ gewirkt und zum Nachdenken über Reformen in der EU angeregt. Ohne die Briten sei ein Neuanfang, beispielsweise in der europäischen Verteidigungspolitik, vorstellbar.

In der Podiumsdiskussion ging es um die zentrale Frage, ob die Staaten der EU angesichts des Brexit enger zusammenrücken sollten. Konstantin Vössing, Gastprofessor und Leiter des Lehr- und Forschungsbereichs Vergleichende Politikwissenschaft des Instituts für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, sprach sich ganz klar dafür aus, stellte aber zwei Gegenfragen: Ist ein Mehr an europäischer Integration überhaupt möglich? Und: Was für ein Europa wollen wir? Hier sieht er die pro-europäischen Politiker in der Pflicht, mehr Politikerklärung und Politikbegründung zu liefern. Notwendig sei ein eingängiges Narrativ. Ein Mehr an Integration reiche als Politikbegründung nicht mehr aus. Die Politikerklärung gelinge besser, wenn europäische Maßnahmen konkret, also weniger abstrakt, seien, und mit politischen Zielen verbunden würden. Und es müsse einen plausiblen Zusammenhang zwischen Maßnahmen und Zielen geben.

Auch Bernhard Schnittger, stellvertretender Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, sprach sich für ein Mehr an Integration aus. Notwendig sei dies aber nicht wegen des Brexit. Vielmehr gebe es zahlreiche sachliche Gründe für mehr Einigkeit und Zusammenarbeit in der EU: Letztlich gehe es um die Stellung der EU-Mitgliedstaaten in der Welt. Von den fünf Szenarien des Weißbuchs zur Zukunft Europas vom März 2017 hält er zwei Szenarien für die wahrscheinlichsten: weniger Bereiche europäisch zu regeln, dafür aber effizienter, und eine EU der verschiedener Geschwindigkeiten.

Mathias Dubbert, Leiter des Referats Europapolitik, EU-Finanzierungsinstrumente, Europäische Außenwirtschaftsförderung, DIHK-Büro Brüssel, befürwortete effiziente Politiken und insbesondere mehr Konzentration auf die Vollendung des Binnenmarkts. Dies sei in bestimmten Bereichen noch nicht erreicht, beispielweise hinsichtlich der Digitalisierung. Angesichts des Brexit werde man sich nicht nur in den Unternehmen wieder der positiven Seiten der EU bewusst. Der Handel sei das zentrale Thema in den Brexitverhandlungen, denn sowohl Großbritannien als auch die EU-Mitgliedstaaten wüssten, dass sie viel zu verlieren haben. Ein Freihandelsabkommen werde sicher geschlossen. Die Frage sei nur, wann.

Brexit-Nachahmer? – Mehr Einigkeit in der EU-27 – Glücksfall Brexit?

Zur Frage, ob andere Mitgliedstaaten den Brexit kopieren könnten, wagte keiner der Panelisten eine Prognose. Betont wurde, dass aufgrund der Brexit-Entscheidung Europakritiker in anderen Ländern Aufwind bekommen hätten, denn ein Ausstieg sei in den Bereich des Möglichen gerückt. Festzustellen sei aber auch und vor allem, dass, nachdem lange Zeit nur EU-Kritiker zu hören waren, nun überall EU-Befürworter im Sinne einer nachholenden Politisierung auf den Plan träten. Auch hätten die Staats- und Regierungschefs bei den Brexit-Verhandlungszielen – für manche überraschend – sehr schnell Einigkeit erzielt. Wegen des Brexit sei die Aufmerksamkeit für die Szenarien der zukünftigen Ausgestaltung der EU größer geworden. Die Frage, ob der Brexit vielleicht sogar ein Glücksfall für die EU sein könnte, traf auf ein entschiedenes Nein aller drei Panelisten. Für Großbritannien sei der Brexit jedenfalls kein Glücksfall. Für die EU aber ebenso wenig, denn es gehe ihr ein wichtiger Mitgliedstaat verloren. Gerade wegen der vermeintlich besseren Politikbegründungen der Brexit-Befürworter seien die europafreundlichen Politiker nun aufgefordert, Politikerklärungen für das Europa, das sie für richtig halten, zu liefern. In jedem Fall werde wegen des Brexit in der Politik und der europäischen Öffentlichkeit wieder viel über den Sinn und die Ziele der Europäischen Union diskutiert.

So endete das Forum über ein schwieriges europapolitisches Thema doch mit einer positiven Note.

Dank

Der MEGA-Alumni e. V: – Les anciens élèves du MEGA dankt allen Beteiligten, Unterstützern und Förderern herzlich für ihren Beitrag zum Gelingen des Forums, den Rednerinnen und den Rednern, den Teilnehmenden, der Moderatorin Nadine Kleifges, der Deutsch-Französischen Hochschule, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Potsdam.

Fotogalerie vom 3. Deutsch-Französischen Forum

Programm

Berichterstattung:

Sabine Kohl

Vorsitzende des MEGA Alumni e. V. – Les anciens élèves du MEGA

Pressekontakt :

Frédérik Stiefenhofer

Mitglied des Vorstands des MEGA Alumni e. V. – Les anciens élèves du MEGA

E-Mail : vorstand@mega-alumni.eu